You only live twice: In der Dominosteinefabrik
Wenn ich nicht eben nochmal kurz aufn Kalender geschaut hätte, ich hätts beinah vergessen. In Oberbayern ist es ja so, dass die Leute gar nicht so sehr den Geburtstag feiern und vielmehr der Namenstag wichtig ist. Ein schöner Brauch - der aber einerseits immer mehr in Vergessenheit gerät und andererseits angesichts der vielen komplett verblödeten Kindernamen (Melvin, Shannin, Tschingatschkook ...), die es neuerdings so gibt und wegen derer man den offensichtlich unzurechnungsfähigen Eltern ihre Blagen auch direkt nach der Abnabelung entziehen sollte, wie ich meine - ein schöner Brauch also, der - um das Satzende doch noch irgendwie zu finden - andererseits wohl einfach daran scheitern wird, dass es schlicht und einfach nicht so viele Tage im Jahr gibt wie idiotische Nachwuchsnamen.
Nicht nur aus diesem Grund ist es doch wunderbar, wenn man Geburts- und Namenstage Geburts- und Namenstage sein lässt und stattdessen den Todestag feiert. Meiner war heute vor einem Jahr, und um ein Haar hätte ich nicht mehr daran gedacht. 18. Dezember 2005. Der Tag, an dem ich mein altes Blog dichtgemacht habe, ich sprach bereits davon. Wovon ich nur ungern spreche, das ist eine Tatsache, die manche Leser hier ohnehin schon vermuten: Dass ich im tiefsten Innern meines bösen Schein-Seins ein herzensguter, liebevoller und zärtlicher Mensch bin und ab und an so sentimental, dass ich all die schlimmen Gschichterl aus der alten Behausung aufgehoben habe und noch heute manchmal davor weine. Tja, so ist das.
Zur Feier des Tages und der Quersumme habe ich jetzt mal einen Beitrag ausgegraben für all jene, die letztes Jahr noch das Glück hatten, ihn nicht lesen zu müssen. Vielleicht macht man das auch besser erst nach dem Frühstück, es ist nämlich ein kleines bisschen eklig. Mahlzeit!
In der Dominosteinefabrik
Dominosteine sind ja nur eine der vielen Gaumensensationen, die die vorweihnachtliche Wartezeit versüßen. Aber sie sind nicht nur für den Gaumen eine Sensation, auch ihre, man muss schon sagen, Konstruktion ist ein Kunstwerk.
In diesem Beitrag geht es nicht so sehr um diese unglaubliche Rezeptur, diese Atem beraubende Komposition aus Lebkuchen, Marzipan, Gelee und Schokolade. Viel sagenhafter ist die Genese dieser Köstlichkeit. Ein dünner Lebkuchenboden, dann der leckere Gelee, der Deckel aus Marzipan - ist das nicht eine geradezu unbeschreiblich gelungene kulinarische Anspielung auf
die göttliche Dreifaltigkeit? Rührt es uns nicht bis ins Allerinnerste, dass Gottvater, Sohn und Heiliger Geist uns auf solch süße Weise nahe kommen? Und das kein bisschen aufdringlich, nein, sondern gleichsam ganz im Verborgenen, umhüllt von dunkler Schokolade.
Wer, der beim Anblick des braunen Schokoladenmantels nicht auf der Stelle erinnert würde an Psalm 23? "Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal...". Ist nicht die Schokolade eine eßbare Metapher für dies finstere Tal, das wir durchwandern müssen, um, endlich in der Lebkuchengeleemarzipan- dreifaltigkeit angekommen, nicht nur sagen können "bereitest vor mir ein Mahl im Angesicht meiner Feinde", sondern dieses Mahl im selben Augenblicke auch noch genießen zu dürfen? Matthäus spricht davon, dass wir wachsam sein sollen ("Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde." Mt 25, 13). Doch beim Dominostein müssen wir gar nicht wachsam sein. Sobald wir die Schokolade gegessen, das finstere Tal also durchwandert haben, weidet uns der Herr augenblicklich auf dieser herrlich blühenden Aue.
Leider ist das aber nicht die ganze Geschichte. Ich habe von der wundersamen Genese des Dominosteins gesprochen. So kunstvoll zusammengefügt die Ingredenzien dieser Praline sind, so schauderhaft sind nämlich doch die Bedingungen, unter denen dies geschieht. Niemand weiß davon, niemand spricht über die entsetzlichen Umstände, in welchen sich diejenigen befinden, die uns die Zeit, da wir die Ankunft des Heilands erwarten, versüßen.
Ich sage euch auch, warum darüber niemand spricht: Stürme der Entrüstung würden aufbranden, voller Ekel würden wir die Dominosteine nach dem ersten Bissen wieder ausspeien. Grenzenloses Mitleid würde uns verbieten, auch nur eine weitere Packung in den Einkaufswagen einzuladen. Aber hört nur weiter...
Meist liegen die Dominosteinfabriken abseits der Zentren. Man findet sie dort, wo ohnehin niemand gerne lebt. In den trostlosen Quartieren der Armen, der Fremden, der Ausgestoßenen. Dort, wo Kinder im Dreck der Gosse spielen, jahrein, jahraus. Wo babylonische Sprachenwirrnis herrscht und der Nachbar nicht mehr den Nachbarn versteht. Wo dicke, hässliche Frauen mit Lockenwicklern ihre Ellbogen auf Häkelkissen stützen und von unbevorhangten Fensterlöchern aus tatenlos zusehen, wie Banden halbwüchsiger Spätaussiedler Kondomautomaten plündern. Wo ebenso hilf- wie zahnlose Greisinnen in Unterwäsche ihre welken Leiber für nichts als einen Teller dünner Suppe feilbieten.
Ich hatte selbst einmal das zweifelhafte Vergnügen, unweit einer Schokoladenfabrik zu wohnen. Und ich sage euch, da riecht nichts mehr gut, da vergeht einem jeglicher Appetit. Denn flüssige Schokolade ist, olfaktorisch gesehen, ein einziger Affront, ein Riech-Vorgeschmack auf den Armageddon, ein eschatologisches Menetekel. Schließt einmal die Augen und stellt euch geschmolzene Schokolade vor. Und dann lasst euren Assoziationen freien Lauf....nun, an was erinnert es euch? Ganz recht. Und bei allen Heiligen! Ich kann es beschwören: Genau so riecht es auch. Als hätte Gott der Allmächtige seinen Darmwinden freien Lauf gelassen. Und dann, liebe Freunde, stellt euch dazu auch noch die Bottiche vor, in denen diese, in eruptionsartigen, katatonischen Konvulsionen herausgeblasene himmlische Diarrhoe aufgefangen wird. Euch wird übel? Dabei habt ihr doch jetzt erst das apokalyptische Bild der letzten Dominosteine-Produktionsstufe gesehen. Wir gehen weiter rückwärts...
Rund um diese riesigen Bottiche stehen sie, die armen Teufel, die dem Dominostein in Handarbeit seine Hülle geben, und tauchen Stück um Stück in die heiße Brühe ein mit ihren ekzemgrindigen Händen. Dieser Arbeitsgang wird von denen ausgeführt, die nichts anderes mehr tun können, weil ihre Augen schon zu trübe und ihre Fähigkeit zur exakten Bewegung bis auf ein Minimum verloren gegangen ist. Mehr als das Auf und Ab der Hand bringen sie nicht mehr fertig. Es sind ausschließlich Männer, die man hier sieht. Männer, denen nichts geblieben ist außer der Dominosteinefabrik und der Masturbation. Ihren Bewegungsablauf nehmen sie morgens mit in diese Mühle, an den Händen oft noch die fischigen Reste Ejakulats, und abends bringen sie ihn auch wieder heim in ihre trostlosen Buden, in denen leere Doppelkornflaschen und nicht ausgespülte Bratheringdosen aus den Mülleimern quellen. Männer, die oft noch keine sechzig Jahre alt sind, die aber nach der langen Zeit in der Lebkuchenbäckerei, der Geleeabteilung, der Marzipankneterei und jetzt eben in der Schokogussabteilung aussehen wie Neunzigjährige.
Gehen wir jetzt noch eine Stufe zurück. Verfolgen wir, wie geleebedeckte Lebkuchenböden von den Bändern fallen und mit einer Lage Marzipan bedeckt werden. Die hartgefrorenen Marzipanblöcke müssen von den Beschäftigten erst auf eine Temperatur erwärmt werden, bei der sie dominosteingerecht zugeschnitten werden können. Das geschieht in großen Becken, und auf den ersten Blick glaubt man, der Weinherstellung oder kneippschem Wassertreten beizuwohnen. Bei genauerem Hinsehen verflüchtigt sich dieser Eindruck natürlich sofort. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hier sind alle extrem dick, denn unter ihrem großen Gewicht wird die eiskalte Marzipanmasse schneller warm und geschmeidig. Auch hier unmenschliche Bedingungen. Barfuß stehen diese Kreaturen in dem cremefarbenen Brei. Zwar haben sie zentimeterdicke Hornhäute, mit denen sie wohl auch über Glassplitter sorglos laufen könnten, aber die in der Mandelmasse enthaltene Blausäure vergiftet sie jeden Tag ein bisschen mehr, und so sehen ihre Körper auch aus. Man fühlt sich in die gliedmaßenübersäten Gedichte Gottfried Benns versetzt, man spürt die Cholera in Aschenbach wüten, man blickt fassungslos auf die verstörenden Schwarzen Bilder Goyas. Leichenblasse Gesichter, über die die Anstrengung des Tretens den Schweiß in Bächen rinnen lässt; Oft dauert es einen halben Tag, bis Schweiß und Marzipan sich zu einer Emulsion vermengt haben, der man ihre Zutaten nicht mehr ansieht. Von Zeit zu Zeit muss sich jemand übergeben, dann hört man zusätzlich zum schweren Atem dieser großteils tatsächlich adipösen Menschen auch noch ein grauenhaftes Würgen und Röcheln, und man kann einen Blick auf ihre blauen Zungen erhaschen. Nicht mehr lange, dann werden auch sie an den Schokoladenbottichen stehen.
Ist die Marzipanmasse warm und weich genug, rollen die Dicksten unter ihnen, menschlichen Nudelhölzern gleich, darüber, nachdem man die Mandel-Zucker-Mischung auf überdimensionale Bleche aufgebracht hat. Kinder schließlich stanzen die kleinen Vierecke aus, die uns Ignoranten so sehr schmecken.
Ein wenig humaner geht es in der Geleekocherei zu. Hier stehen Heerscharen meist kasachischer Mütter, für die das Marmelade- und Geleekochen noch beinah eine gute Tradition ist. Jede hat ein anderes Geheimrezept, eine andere unaussprechliche Zutat, die die Schicht zwischen Lebkuchen und Marzipan zum Geschmackswunder machen soll. Analysiert man diese geheimen Beimengungen, so stellt sich allerdings meist heraus, dass es sich um die abgeschnittenen, fein zermahlenen Fußnägel ihrer Ehemänner handelt, die sie unter ihrem Herzen in die Fabrik schmuggeln oder um Popel, die ihnen immer wieder aus den kratergroßen Nasenlöchern fallen. Manche dieser fürchterlichen Weiber schrecken nicht einmal davor zurück, in die Marmeladenkessel zu menstruieren. Vielleicht gibt es darüber ein geheimes Wissen. Vielleicht ist das der Grund, warum es Frauen gibt, die bei Dominosteinen "den Glibber" in der Mitte nicht mögen.
Bleibt der letzte Abschnitt in unseres Rundgangs durch die Dominosteinefabrik, der eigentlich der erste ist: Die Lebkuchenbäckerei. Hierüber liegen leider keine gesicherten Erkenntnisse vor, da diese Produktionsstufe im Zuge diverser Re- und Umstrukturierungsmaßnahmen - Geißel neoliberaler Wirtschaftspolitik und des Deregulierungsgeschreis der Chicago-Boys - ausgelagert worden ist. In ganz Europa findet man keine Dominosteinefabrik mehr, die den Lebkuchenboden noch selbst herstellt. Ich habe auch nach längerer Recherche nicht mehr erfahren, als dass verschiedene Zulieferbetriebe aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. Südostasien unter allergrößter Geheimhaltung die Böden für die Dominosteine produzieren. Berichte der Vereinten Nationen und von Human Rights Watch lassen allerdings leider auch hierfür das Schlimmste vermuten. In jüngster Zeit häufen sich auch Meldungen von Amnesty International, dass in den äußersten Winkeln Sibiriens ehemalige Arbeitslager aus der Stalinzeit wiedereröffnet worden seien und in ihnen unter anderem auch Lebkuchenbäckereien bestehen sollen. Mehr war leider nicht zu erfahren.
Vielleicht ist das auch gut so.
Nicht nur aus diesem Grund ist es doch wunderbar, wenn man Geburts- und Namenstage Geburts- und Namenstage sein lässt und stattdessen den Todestag feiert. Meiner war heute vor einem Jahr, und um ein Haar hätte ich nicht mehr daran gedacht. 18. Dezember 2005. Der Tag, an dem ich mein altes Blog dichtgemacht habe, ich sprach bereits davon. Wovon ich nur ungern spreche, das ist eine Tatsache, die manche Leser hier ohnehin schon vermuten: Dass ich im tiefsten Innern meines bösen Schein-Seins ein herzensguter, liebevoller und zärtlicher Mensch bin und ab und an so sentimental, dass ich all die schlimmen Gschichterl aus der alten Behausung aufgehoben habe und noch heute manchmal davor weine. Tja, so ist das.
Zur Feier des Tages und der Quersumme habe ich jetzt mal einen Beitrag ausgegraben für all jene, die letztes Jahr noch das Glück hatten, ihn nicht lesen zu müssen. Vielleicht macht man das auch besser erst nach dem Frühstück, es ist nämlich ein kleines bisschen eklig. Mahlzeit!
In der Dominosteinefabrik
Dominosteine sind ja nur eine der vielen Gaumensensationen, die die vorweihnachtliche Wartezeit versüßen. Aber sie sind nicht nur für den Gaumen eine Sensation, auch ihre, man muss schon sagen, Konstruktion ist ein Kunstwerk.
In diesem Beitrag geht es nicht so sehr um diese unglaubliche Rezeptur, diese Atem beraubende Komposition aus Lebkuchen, Marzipan, Gelee und Schokolade. Viel sagenhafter ist die Genese dieser Köstlichkeit. Ein dünner Lebkuchenboden, dann der leckere Gelee, der Deckel aus Marzipan - ist das nicht eine geradezu unbeschreiblich gelungene kulinarische Anspielung auf
die göttliche Dreifaltigkeit? Rührt es uns nicht bis ins Allerinnerste, dass Gottvater, Sohn und Heiliger Geist uns auf solch süße Weise nahe kommen? Und das kein bisschen aufdringlich, nein, sondern gleichsam ganz im Verborgenen, umhüllt von dunkler Schokolade.
Wer, der beim Anblick des braunen Schokoladenmantels nicht auf der Stelle erinnert würde an Psalm 23? "Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal...". Ist nicht die Schokolade eine eßbare Metapher für dies finstere Tal, das wir durchwandern müssen, um, endlich in der Lebkuchengeleemarzipan- dreifaltigkeit angekommen, nicht nur sagen können "bereitest vor mir ein Mahl im Angesicht meiner Feinde", sondern dieses Mahl im selben Augenblicke auch noch genießen zu dürfen? Matthäus spricht davon, dass wir wachsam sein sollen ("Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde." Mt 25, 13). Doch beim Dominostein müssen wir gar nicht wachsam sein. Sobald wir die Schokolade gegessen, das finstere Tal also durchwandert haben, weidet uns der Herr augenblicklich auf dieser herrlich blühenden Aue.
Leider ist das aber nicht die ganze Geschichte. Ich habe von der wundersamen Genese des Dominosteins gesprochen. So kunstvoll zusammengefügt die Ingredenzien dieser Praline sind, so schauderhaft sind nämlich doch die Bedingungen, unter denen dies geschieht. Niemand weiß davon, niemand spricht über die entsetzlichen Umstände, in welchen sich diejenigen befinden, die uns die Zeit, da wir die Ankunft des Heilands erwarten, versüßen.
Ich sage euch auch, warum darüber niemand spricht: Stürme der Entrüstung würden aufbranden, voller Ekel würden wir die Dominosteine nach dem ersten Bissen wieder ausspeien. Grenzenloses Mitleid würde uns verbieten, auch nur eine weitere Packung in den Einkaufswagen einzuladen. Aber hört nur weiter...
Meist liegen die Dominosteinfabriken abseits der Zentren. Man findet sie dort, wo ohnehin niemand gerne lebt. In den trostlosen Quartieren der Armen, der Fremden, der Ausgestoßenen. Dort, wo Kinder im Dreck der Gosse spielen, jahrein, jahraus. Wo babylonische Sprachenwirrnis herrscht und der Nachbar nicht mehr den Nachbarn versteht. Wo dicke, hässliche Frauen mit Lockenwicklern ihre Ellbogen auf Häkelkissen stützen und von unbevorhangten Fensterlöchern aus tatenlos zusehen, wie Banden halbwüchsiger Spätaussiedler Kondomautomaten plündern. Wo ebenso hilf- wie zahnlose Greisinnen in Unterwäsche ihre welken Leiber für nichts als einen Teller dünner Suppe feilbieten.
Ich hatte selbst einmal das zweifelhafte Vergnügen, unweit einer Schokoladenfabrik zu wohnen. Und ich sage euch, da riecht nichts mehr gut, da vergeht einem jeglicher Appetit. Denn flüssige Schokolade ist, olfaktorisch gesehen, ein einziger Affront, ein Riech-Vorgeschmack auf den Armageddon, ein eschatologisches Menetekel. Schließt einmal die Augen und stellt euch geschmolzene Schokolade vor. Und dann lasst euren Assoziationen freien Lauf....nun, an was erinnert es euch? Ganz recht. Und bei allen Heiligen! Ich kann es beschwören: Genau so riecht es auch. Als hätte Gott der Allmächtige seinen Darmwinden freien Lauf gelassen. Und dann, liebe Freunde, stellt euch dazu auch noch die Bottiche vor, in denen diese, in eruptionsartigen, katatonischen Konvulsionen herausgeblasene himmlische Diarrhoe aufgefangen wird. Euch wird übel? Dabei habt ihr doch jetzt erst das apokalyptische Bild der letzten Dominosteine-Produktionsstufe gesehen. Wir gehen weiter rückwärts...
Rund um diese riesigen Bottiche stehen sie, die armen Teufel, die dem Dominostein in Handarbeit seine Hülle geben, und tauchen Stück um Stück in die heiße Brühe ein mit ihren ekzemgrindigen Händen. Dieser Arbeitsgang wird von denen ausgeführt, die nichts anderes mehr tun können, weil ihre Augen schon zu trübe und ihre Fähigkeit zur exakten Bewegung bis auf ein Minimum verloren gegangen ist. Mehr als das Auf und Ab der Hand bringen sie nicht mehr fertig. Es sind ausschließlich Männer, die man hier sieht. Männer, denen nichts geblieben ist außer der Dominosteinefabrik und der Masturbation. Ihren Bewegungsablauf nehmen sie morgens mit in diese Mühle, an den Händen oft noch die fischigen Reste Ejakulats, und abends bringen sie ihn auch wieder heim in ihre trostlosen Buden, in denen leere Doppelkornflaschen und nicht ausgespülte Bratheringdosen aus den Mülleimern quellen. Männer, die oft noch keine sechzig Jahre alt sind, die aber nach der langen Zeit in der Lebkuchenbäckerei, der Geleeabteilung, der Marzipankneterei und jetzt eben in der Schokogussabteilung aussehen wie Neunzigjährige.
Gehen wir jetzt noch eine Stufe zurück. Verfolgen wir, wie geleebedeckte Lebkuchenböden von den Bändern fallen und mit einer Lage Marzipan bedeckt werden. Die hartgefrorenen Marzipanblöcke müssen von den Beschäftigten erst auf eine Temperatur erwärmt werden, bei der sie dominosteingerecht zugeschnitten werden können. Das geschieht in großen Becken, und auf den ersten Blick glaubt man, der Weinherstellung oder kneippschem Wassertreten beizuwohnen. Bei genauerem Hinsehen verflüchtigt sich dieser Eindruck natürlich sofort. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hier sind alle extrem dick, denn unter ihrem großen Gewicht wird die eiskalte Marzipanmasse schneller warm und geschmeidig. Auch hier unmenschliche Bedingungen. Barfuß stehen diese Kreaturen in dem cremefarbenen Brei. Zwar haben sie zentimeterdicke Hornhäute, mit denen sie wohl auch über Glassplitter sorglos laufen könnten, aber die in der Mandelmasse enthaltene Blausäure vergiftet sie jeden Tag ein bisschen mehr, und so sehen ihre Körper auch aus. Man fühlt sich in die gliedmaßenübersäten Gedichte Gottfried Benns versetzt, man spürt die Cholera in Aschenbach wüten, man blickt fassungslos auf die verstörenden Schwarzen Bilder Goyas. Leichenblasse Gesichter, über die die Anstrengung des Tretens den Schweiß in Bächen rinnen lässt; Oft dauert es einen halben Tag, bis Schweiß und Marzipan sich zu einer Emulsion vermengt haben, der man ihre Zutaten nicht mehr ansieht. Von Zeit zu Zeit muss sich jemand übergeben, dann hört man zusätzlich zum schweren Atem dieser großteils tatsächlich adipösen Menschen auch noch ein grauenhaftes Würgen und Röcheln, und man kann einen Blick auf ihre blauen Zungen erhaschen. Nicht mehr lange, dann werden auch sie an den Schokoladenbottichen stehen.
Ist die Marzipanmasse warm und weich genug, rollen die Dicksten unter ihnen, menschlichen Nudelhölzern gleich, darüber, nachdem man die Mandel-Zucker-Mischung auf überdimensionale Bleche aufgebracht hat. Kinder schließlich stanzen die kleinen Vierecke aus, die uns Ignoranten so sehr schmecken.
Ein wenig humaner geht es in der Geleekocherei zu. Hier stehen Heerscharen meist kasachischer Mütter, für die das Marmelade- und Geleekochen noch beinah eine gute Tradition ist. Jede hat ein anderes Geheimrezept, eine andere unaussprechliche Zutat, die die Schicht zwischen Lebkuchen und Marzipan zum Geschmackswunder machen soll. Analysiert man diese geheimen Beimengungen, so stellt sich allerdings meist heraus, dass es sich um die abgeschnittenen, fein zermahlenen Fußnägel ihrer Ehemänner handelt, die sie unter ihrem Herzen in die Fabrik schmuggeln oder um Popel, die ihnen immer wieder aus den kratergroßen Nasenlöchern fallen. Manche dieser fürchterlichen Weiber schrecken nicht einmal davor zurück, in die Marmeladenkessel zu menstruieren. Vielleicht gibt es darüber ein geheimes Wissen. Vielleicht ist das der Grund, warum es Frauen gibt, die bei Dominosteinen "den Glibber" in der Mitte nicht mögen.
Bleibt der letzte Abschnitt in unseres Rundgangs durch die Dominosteinefabrik, der eigentlich der erste ist: Die Lebkuchenbäckerei. Hierüber liegen leider keine gesicherten Erkenntnisse vor, da diese Produktionsstufe im Zuge diverser Re- und Umstrukturierungsmaßnahmen - Geißel neoliberaler Wirtschaftspolitik und des Deregulierungsgeschreis der Chicago-Boys - ausgelagert worden ist. In ganz Europa findet man keine Dominosteinefabrik mehr, die den Lebkuchenboden noch selbst herstellt. Ich habe auch nach längerer Recherche nicht mehr erfahren, als dass verschiedene Zulieferbetriebe aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. Südostasien unter allergrößter Geheimhaltung die Böden für die Dominosteine produzieren. Berichte der Vereinten Nationen und von Human Rights Watch lassen allerdings leider auch hierfür das Schlimmste vermuten. In jüngster Zeit häufen sich auch Meldungen von Amnesty International, dass in den äußersten Winkeln Sibiriens ehemalige Arbeitslager aus der Stalinzeit wiedereröffnet worden seien und in ihnen unter anderem auch Lebkuchenbäckereien bestehen sollen. Mehr war leider nicht zu erfahren.
Vielleicht ist das auch gut so.
rationalstürmer - 18. Dez, 23:12